Der November ist in unserer Familie ein lebendiger Monat. Mein Papa und mein Mann haben Geburtstag.
Mein Mann und ich haben Hochzeitstag. Und dann geht es natürlich auch schon langsam in Richtung Adventsvorbereitungen.
Der November hat aber für mich persönlich noch eine ganz andere – noch viel tiefere Bedeutung, denn es war auch im November, als sich mein Blick auf das Leben komplett gedreht hat.
November 2017 - und nichts ist mehr wie es war
Es war im November 2017. Wir hatten gerade noch den Renovierungsstress mit unserem Haus in den Knochen und haben den Umzug zwar verspätet, aber sehr froh hinter uns gebracht.
„Diesmal bleibst Du aber mal länger als drei Jahre!“ sagt mir lachend mein sehr guter Freund Michi (Namen geändert), der mir schon seit unserer Schulzeit bei sämtlichen Umzügen und Lebensumbrüchen zur Seite stand. Überhaupt ist er immer ein toller Freund gewesen – einer von der Sorte, die ich nachts um drei vom Gardasee oder sonst woher anrufen könnte und er würde sofort losfahren, um mich abzuholen. Wir haben sehr viel zusammen erlebt, waren uns bei unseren Hochzeiten, Familiengründungen, Umzügen und Trennungen und auch bei traurigen Verlusten zur Seite gestanden. Wir haben auch zusammen einen lieben Freund gehen lassen müssen. Auch das war eine wichtige Phase in meinem Leben…aber heute mag ich wieder auf den November zurückkommen.
"Tina, sitzt Du?"
Wir sind also gerade umgezogen und am Wochenende darauf habe ich mit meinen Lieben den ersten adventlichen Ausflug auf den Ferlhof gemacht, um uns die Stände mit Kunsthandwerk anzusehen und die ein oder andere Leckerei zu schnabulieren.
Und dann klingelt mein Handy. Es ist Michi.
„Tina, sitzt Du?“
„Nein. Was ist denn passiert?“
„Bitte setz Dich hin, es ist was mit Anna (seine 7-jährige Tochter, Name geändert) passiert.“
„Ich kann mich jetzt nicht hinsetzen, aber was ist denn mit Anna, Michi? Hat sie einen Unfall gehabt?“
„Anna ist heute Nacht gestorben.“
Stille.
Und Chaos in meinem Kopf.
Es kann nicht sein – sie ist ein kerngesundes, fröhliches und fittes Mädchen.
„Wie kann das sein?“
„Wir wissen es nicht.“
„Ich komme zu euch.“ Sage ich noch, packe meine Familie ins Auto, setze sie zu Hause ab und fahre zu Michis Elternhaus, in dem alle versammelt sind.
Kerzen brennen, Bilder von Anna liegen auf dem Tisch. Der Raum ist mit Trauer und Fassungslosigkeit gefüllt.
Auch mein eigener Raum – in Verbindung mit Ungläubigkeit.
Ich sehe die Kerzen, die Fotos, die weinende Familie. Alle sind da – nur Anna nicht.
Und ich kann es nicht glauben. Wir alle können es nicht glauben.
Ich weiß nicht, was ich tun kann – will so gerne den Schmerz lindern, aber es geht nicht.
Der Schmerz und die Verzweiflung sind so groß.
Ich glaube so groß, wie sie größer im Leben von Eltern nicht sein kann.
„Was kann ich für euch tun?“ frage ich. „Bitte sei einfach nur da.“ ist die Antwort.
Reicht das? Es muss doch was geben, was ich noch tun kann…
Nein. Es gibt nichts – außer Dasein.
"Jetzt kommt sie bestimmt gleich zur Tür rein..."
Es folgen Tage des Schmerzes, der Trauer, der Fassungslosigkeit und des Funktionierens.
Es gibt viel zu tun – und während organisiert und getan wird, denke ich immer wieder:
„Jetzt kommt doch bestimmt gleich Anna zur Tür rein.“ – Nein. Sie kommt nicht.
Jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, drücke ich meine Kinder ganz fest.
Ich hab nur einen Funken an Idee, wie es sich anfühlen muss. Und es tut mir schon furchtbar weh.
Nachts schlafe ich nicht, weil ich es nicht glauben kann. Und weil ich Angst habe, meine Kinder zu verlieren.
Der Abschied von Anna ist sehr schön. Viele Blumen, der Sarg voller Bilder und weiße Luftballons, die wir in den Himmel – zu ihr – steigen lassen.
Und dann erst, mit jedem Tag danach, fängt das Abschiednehmen an. Und das Realisieren, was passiert ist…und das Wieder-in-den-Alltag-finden. Den es so, wie er war, überhaupt nicht mehr gibt.
(Bevor ich weiterschreibe, ist es mir wichtig zu erwähnen, dass ich mit meinen Ausführungen hier keine Angst schüren möchte – aus Pietätsgründen möchte ich aber auch nicht näher auf die Umstände eingehen. Es war eine Verkettung von sehr, sehr unwahrscheinlichen und ungünstigen Umständen. Mehr möchte ich hier nicht sagen – der Sinn meines Schreibens ist ein anderer.)
Warum mir das hier zu schreiben so wichtig ist...
Warum schreibe ich das?
Abgesehen davon, dass ich gerade merke, dass vor lauter Funktionieren mein Schmerz wohl immer noch nicht den nötigen Raum hatte, den er sich wohl jetzt hier mit dem Schreiben nimmt, hat dieser eine Anruf von Michi mein Leben verändert.
Es war der Moment, in dem mir klar geworden ist, dass das Leben nicht nur endlich, sondern auch nicht planbar oder sicher ist.
Die Sicherheit, dass das Leben immer so schön vor sich hinplätschert, gibt es nicht.
Die Sicherheit, dass man immer seine Lieben um sich herum hat, bis man alt und grau ist, gibt es nicht.
Das Einzige, was es gibt, ist das Hier & Jetzt.
Und die Dankbarkeit für das, was ich jetzt habe.
Die einzige Sicherheit, die es gibt, ist, dass das Leben gelebt werden will. Wahrhaftig gelebt.
Wir können hier und jetzt unser Leben so leben, wie wir es uns wünschen. Mit jedem Tag mehr.
Und wir können hier und jetzt dankbar für all das sein, was und wen wir in unserem Leben haben.
Was im Leben wirklich zählt...
Wir können hier und jetzt entscheiden, dass wir nicht mehr wie bisher weiter machen wollen.
Wir können hier und jetzt entscheiden, die Tretmühle zu verlassen.
Immer hetzen, ToDos abarbeiten, die aber irgendwie nie ein Ende haben. Noch höher, noch schneller, noch weiter. Oder auf später warten. „Wenn ich das und das erledigt habe, dann….“. „Später, wenn ich in Rente bin….“.
Für was?
Und wie lange noch?
Ich habe mir seit diesem Tag geschworen, keinen Tag mehr einfach nur vor mich hinzuleben, „weil man es halt so macht“.
Lebe ich seitdem ein außergewöhnliches Leben in Hülle und Fülle voller glückseliger Erfahrungen? Nein.
Vergesse ich im Alltagstrubel auch immer mal wieder, dass die Tretmühle nicht zu dem Leben gehört, das ich führen will? Ja.
Gehe ich immer wieder im Alltagschaos unter und habe ich manchmal auch das Gefühl, abzusaufen?
Absof***lutely JAAAA!
Ich will MEIN Leben leben!
Aber es gelingt mir immer öfter, mir das Leben bewusst zu machen.
Bewusst Zeit mit mir zu verbringen.
Bewusst Zeit mit meinen Lieben zu verbringen.
Meine Worte bewusst zu wählen.
Mit meiner Haltung bewusst in die bedingungslose Liebe und raus aus dem Kampf zu gehen.
Mir meinen Gestaltungsspielraum bewusst zu machen.
Mir mein Selbst bewusst zu machen.
Mich mehr und mehr davon zu lösen, wie etwas vermeintlich zu sein hat oder wie man etwas halt so macht, obwohl es mir völlig widerstrebt.
Mich mehr von meinen hinderlichen Mustern, Erfahrungen, Erwartungen zu lösen und mehr und mehr mein Ding zu machen.
Das zu leben, was meiner Natur entspricht.
Eben MEIN Leben zu leben.